Geld: „Der Nicht-Erbe wird den Erben nie mehr einholen können“

Es gibt da eine Welle, die nicht mehr zu stoppen ist und über ganz Deutschland rollt, Klunker, Gold und Immobilien bringt und Besitz- und Reichtümer im Volk verteilt. Nur leider ist dieser Schatz sehr ungleich verteilt, und wenn die Welle bricht, hat die Mehrheit das Nachsehen. Die Rede ist, natürlich, von der Erbschaftswelle. Pro Jahr werden im Land laut Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) rund 400 Milliarden Euro vererbt – doch etwa die Hälfte davon geht an die reichsten zehn Prozent. 52,3 Prozent der Menschen in Deutschland dagegen sind Nicht-Erben: Sie haben bislang noch gar nichts geerbt und werden das wohl auch nie tun. Was macht das mit ihnen? Soziologe Rudolf Stumberger erforscht die tabuisierten Gefühle von Nicht-Erben. Im Interview verrät er, wieso viele gar nicht neidisch sind – sondern eher traurig und verbittert. Lesen Sie hier das komplette Interview mit Rudolf Stumberger: Herr Stumberger, haben Sie geerbt? Rudolf Stumberger: Ich habe nicht geerbt – aber einige Bekannte und Freunde von mir. Da begann ich, mich zu hinterfragen: Was empfinden eigentlich Nicht-Erben? Es gibt so viele Ratgeber zum Thema Erben, überall klären Volkshochschulen, Rechtsanwälte oder Tageszeitungen über das „richtige“ Vererben auf. Doch über Nicht-Erben spricht niemand – dabei stellen sie die Bevölkerungsmehrheit. Echt?60 Prozent der Deutschen erben zumindest nichts Nennenswertes. Meist kommen Nicht-Erben aus Arbeiterfamilien in den Großstädten oder aus Ostdeutschland. Sie profitieren nicht vom leistungslosen Vermögen und müssen weiterhin arbeiten gehen. Was ist schon dabei? Manche erben halt, andere nicht, das ist nun mal der Lauf der Dinge. Man muss zwischen altem und neuem Erben unterscheiden. Das alte Erben existiert, seit es Vermögen gibt: Einige wenige Menschen aus Adel oder Bürgertum verfügen über sehr viel Kapital. Wie etwa die BMW-Erbin Susanne Klatten. Und das neue Erben?Kurioserweise haben ausgerechnet die beiden Weltkriege die Vermögensverhältnisse in Deutschland neu geordnet. Mit dem Wirtschaftswunder der 50er-Jahre konnten erstmals auch Menschen aus der Arbeiterschicht ein bescheidenes Vermögen aufbauen, meist in Form kleiner Eigenheime. Nicht mehr nur Reiche wie zuvor. In den Medien liest man da oft von einer Erbschaftswelle: In diesen Jahren vererbt die Generation Wirtschaftswunder mit dem Tod ihr kleines Haus an die Babyboomer. Ist doch prima. Bei den aktuellen Immobilienpreisen läppert sich das: Klar, das Häuschen in der Uckermark vielleicht nicht – doch steht es in München, ist es leicht eine Million Euro wert. Stellen Sie sich einfach zwei Krankenpfleger vor: selber Job, selbes Einkommen, selbe Lebenssituation. Dann erbt einer so ein Haus und kann sich plötzlich ganz viel leisten. Waren die beiden vorher noch auf Augenhöhe, entsteht nun eine enorme soziale Kluft. Der Nicht-Erbe wird den Erben nie mehr einholen können, egal wie viele Überstunden er macht oder im Job aufsteigen wird. Aus sozialer Gleichheit wird so soziale Ungleichheit. Und das in einer Gesellschaft, die von sich behauptet, auf Leistung zu beruhen. Ist Deutschland etwa weniger eine Leistungs- als eine Erbengesellschaft?Ja. Meinen Sie das ernst? Ja, und da bin ich nicht allein. Der französische Ökonom Thomas Piketty sagt, dass unsere Lebensgestaltung in Zukunft viel weniger von den eigenen Leistungen abhängen wird – und viel mehr von Erbschaften. Anders als etwa noch in der Nachkriegszeit, da habe man noch nur durch eigene Leistung zu Wohlstand kommen können. Das klappt doch nur, wenn eine Erbschaft wirklich das eigene Leben verändert. Die durchschnittliche Höhe einer Erbschaft liegt in Deutschland laut DIW bei 85.000 Euro. Das ist wirklich eine Menge Geld, klar – aber keine, die von jetzt auf gleich das ganze Leben verändert. Na ja, das ist die Durchschnittssumme. Die viel größere Rolle dabei spielt das alte Erben: Werden wie in Deutschland pro Jahr etwa 400 Milliarden Euro vererbt und die Hälfte davon geht an die reichsten zehn Prozent, verstärkt das die Vermögensungleichheit enorm. Laut einer Studie von DIW, Universität Vechta und Deutschem Zentrum für Altersfragen (DZA) vergrößern Erbschaften die Vermögensdifferenzen und die absolute Ungleichheit. Auch, weil von Erbschaften und Schenkungen vor allem Menschen mit bereits hohem Einkommen oder Vermögen profitieren.Über das Erben reproduziert sich die ungleiche soziale Struktur der Gesellschaft mit sehr konzentriertem Vermögen in den Händen weniger an der Spitze. Klar gibt es Gegenbeispiele wie den Schraubenmilliardär Reinhold Würth, der es mit schwäbischer Geschäftigkeit selbst geschafft hat. Aber die meisten sehr großen Vermögen beruhen auf großen Erbschaften. Schon jetzt ist Vermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt. Der Gini-Index als Maß für Ungleichheit liegt in Deutschland bei sehr hohen 0,79. Nur die skandinavischen Länder weisen EU-weit noch eine höhere Vermögensungleichheit auf.Erbschaften sind der wichtigste Faktor dafür, dass sich die Gesellschaft immer stärker polarisiert und die Mittelschicht schrumpft. Sie untergraben das Prinzip von Leistung und sozialer Gerechtigkeit. Mit Verlaub, Sie übertreiben.Nein. Ich wohne in München. Viele können sich das Leben hier nur leisten, weil sie geerbt haben. In Ostdeutschland ist das anders: Da erben weniger Menschen viel geringere Summen. Laut DIW erben Ostdeutsche deutlich seltener, zudem sind die Erbschaften viel kleiner. Liegt die durchschnittliche Erbschaft im Westen bei 92.000 Euro, beträgt sie im Osten gerade mal rund 52.000 Euro.Die DDR hat das individuelle Eigentum nicht sehr gefördert. Erschreckend ist: Ballt sich Kapital zu sehr in wenigen Händen, ist die Macht ungleich verteilt, kann das für eine Demokratie zur Gefahr werden. An den Wahlerfolgen für rechte Parteien sehen wir das dann. Soziale Ungleichheit kann zu Verbitterung führen. Mich würde mal interessieren, wie hoch der Verbitterungsgrad in den neuen Bundesländern ist. Wie bitte? Das war eins der Ergebnisse meiner Analyse. Nicht-Erben führt zu Gefühlen sozialer Ungerechtigkeit, weil Erbschaften als leistungslose Vermögen das Leistungsprinzip verletzen, auf dem unsere Gesellschaft gründet. Nicht-Erben ist eine Wunde, eine Art Trauma, das in Verbitterung umschlagen kann. Ist das nicht etwas übertrieben? Denn ein Trauma ist ja eine Wunde, welche die eigenen Ressourcen derart übersteigt, dass man sie gar nicht verwinden kann.Sind Menschen sehr verbittert und bleiben es, kann das durchaus den Charakter eines Traumas annehmen. Soziologen attestieren Deutschland ja immer mal wieder, eine Neidgesellschaft zu sein, wo der Sozialneid besonders ausgeprägt ist. Nein. Neid verlangt ja nicht nur nach dem Besitztum oder den Fähigkeiten eines anderen, etwa nach dem schönen Auto oder den Klavierspielfähigkeiten – sondern impliziert meist auch etwas Boshaftes, Missgünstiges. Wie die Hoffnung, dass der andere sein Gut wieder verliert, dass es ihm schlecht gehe. Dieses Klischee, das Nicht-Erben vor allem solchen Neid empfinden, stimmt nicht. Was empfinden sie denn? Ein komplexes Bündel an Gefühlen: Oft Resignation und Trauer, vor allem aber soziale Ungerechtigkeit – und eigene Minderwertigkeit. Weil die eigene Leistung entwertet wird, wenn man ein Leben lang sein Vermögen aufbaut und ein anderer dann auf einen Schlag ganz viel erbt. Denn dann ist der Kontakt auf Augenhöhe erst mal vorbei. Freundschaften können zerbrechen, weil sich die soziale Kluft zu sehr weitet. Und dann trauert man halt um die Person, der man vorher sehr nahestand. Und die Erben selbst, was empfinden die?Mitunter empfinden sie Scham und Schuld, weil sie ein schlechtes Gewissen ob des eigenen Erbes haben. Um das eigene Unbehagen zu beruhigen, tragen sie dann auch mal den Begriff des Sozialneids wie einen Schild vor sich her. Eine Art Selbstschutz, um mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Ich weiß nicht, ob man das wirklich so pauschal sagen kann.Das hängt auch davon ab, wie nah wir dem Erben sind. Unsere Peer-Group bewegt uns Menschen überproportional. Sie ist es, die uns den Spiegel vorhält. Je freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher wir dem Erben verbunden sind, desto intensiver sind unsere Gefühle. Zu alten Erben wie Susanne Klatten bauen wir erst gar keine gefühlsmäßige Bindung auf, weil sie sozial viel zu weit von uns weg sind. Sind diese Gefühle berechtigt oder illegitim? Neid etwa könnte man ja auch zum Antreiber wandeln und in Ehrgeiz sublimieren.Berechtigt oder nicht, eher: unvermeidbar. Obwohl die Gefühle tabuisiert sind, treten sie schließlich häufig auf. Wie gehen wir dann am besten damit um?Da gibt es drei Wege: Erstens kann man versuchen, die Verhältnisse zu ändern, sich politisch engagieren, etwa höhere Erbschaftssteuern fordern. Zweitens kann man in die Vermeidung gehen, um nicht mehr verletzt zu werden, etwa den Kontakt zum Erben abbrechen. Drittens kann man seine eigene Einstellung dazu ändern, an seinen Gedanken arbeiten. Man verändert also sich selbst, die Welt – oder ignoriert das Thema ganz.Genau. Und wer sowieso einen selbstgenügsameren Lebensstil pflegt, den belastet das ganze Thema vielleicht gar nicht so sehr. Will ich etwas – Geld, Sportwagen, Eigenheim – aber unbedingt haben und kann es dann nicht realisieren, wird es problematisch. Welche Lösungen für die Gesellschaft sehen Sie als Soziologe? Eine Art Grunderbe für junge Menschen wäre eine Option. Eine andere die Erhöhung der Erbschaftssteuer. Doch da sind die meisten Deutschen laut Umfragen dagegen. Obwohl die Mehrheit nicht erbt. Anscheinend hoffen immer noch genug Bürger, dass sie selbst von einem Erbe profitieren werden. Sehen Sie nicht die Politik in der Pflicht? Das Bundesverfassungsgericht erklärte die langjährige Erbschaftssteuer mehrmals für verfassungswidrig – doch die Politik ist dem Auftrag nie nachgekommen.Da wäre natürlich schon die Politik in der Pflicht, diese Ungleichheit von Privat- und Betriebsvermögen aufzulösen oder neu zu gestalten. Die soziale Frage ist ja in vielen Bereichen brandaktuell: Wohnung, Bildung, Vermögensverteilung. Doch die Politik reagiert darauf kaum. Und eine Novellierung der Erbschaftssteuer scheint aktuell erst recht gar nicht auf der politischen Agenda zu stehen. Mit anderen Themen lassen sich derzeit wohl mehr Wähler gewinnen als mit Fragen von Verteilung oder sozialer Gerechtigkeit. In Ihrem Buch „Wir Nicht-Erben. Kleiner Ratgeber zum Umgang mit tabuisierten Gefühlen“ raten Sie Nicht-Erben, Selbsthilfegruppen aufzusuchen. Das wäre doch eine gute Möglichkeit für Nicht-Erben, um auf individueller Ebene mit ihren Gefühlen umzugehen: Sich verbünden, um mit gegenseitiger Unterstützung, Solidarität und Liebe ein authentisches Leben zu leben. Und nicht verbittert und allein zu enden. Herr Stumberger, vielen Dank für das Interview. Mehr: Plötzlich Erbe – So finden Sie vergessene Konten und Vermögenswerte aus dem Nachlass Dieser Artikel erschien bereits im Juni 2024. Der Artikel wurde am 07.04.2025 erneut geprüft und mit leichten Anpassungen aktualisiert.