Deutschland: „20 Jahre verschlafen“ – Warum die Wirtschaft wirklich lahmt

Wenige Tage vor der Bundestagswahl spitzt sich die Debatte über Auswege aus der Wirtschaftskrise zu. Einen bislang selten diskutierten Aspekt bringt nun die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) auf. Sie kritisiert die deutschen Unternehmen auf Grundlage einer breit angelegten Datenanalyse scharf: „Die Krise ist nicht allein auf externe Faktoren wie den Ukrainekrieg zurückzuführen oder allein das Werk der Politik“, erklärt der Hauptgeschäftsführer der Aktionärsvereinigung, Marc Tüngler. „Die Unternehmen selbst haben 20 Jahre oftmals verschlafen." Die Studienautoren haben die Entwicklung der 100 größten börsennotierten Konzerne analysiert. Die Unternehmen müssten erkennen, dass viele Probleme hausgemacht seien, sagte der Hauptgeschäftsführer bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch. Die viel beklagten „Bürokratiemonster“ der Politik gebe es längst auch in großen Unternehmen und machten auch dort das Arbeiten „langsam und kompliziert“. Die Krise der deutschen Wirtschaft sei in weiten Teilen auf veraltete Strukturen, aufgeblähte Verwaltungen und eine „erschreckend schwache Innovationskraft“ zurückzuführen, heißt es in der Analyse. Die in der derzeitigen Debatte oft angeführten hohen Energiepreise spielten in den meisten Branchen eine untergeordnete Rolle. Die DSW hat die Studie zusammen mit der Strategieberatung Advyce erstellt. Auf Basis der Daten der 100 größten deutschen Unternehmen an der Börse wurden Faktoren wie Energiekosten, internationaler Wettbewerb, Fachkräftemangel, Regulatorik sowie Lohn- und Strukturkosten untersucht. Advyce-Chef Burkhard Wagner nimmt die Manager in die Verantwortung: „Der Industriestandort Deutschland steht keineswegs vor dem Abgrund“, sagt er. „Die Lage ist durchaus ernst, doch die entstehende Panik nicht angebracht. Es herrscht mehr Hysterie als solide Analyse.“ Die Zukunft liege in den Händen der Unternehmen selbst. In den guten Zeiten, also zwischen 2009 und 2019, hätten sich viele Unternehmen „mit allem beschäftigt, nur nicht mit ihrer eigenen Innovationskraft“, heißt es in der Studie. Jetzt werde die Transformation umso schwieriger. Viele Firmen lebten bereits von ihrer Substanz. Mit ihrer kritischen Analyse der Wirtschaft stehen DSW und Advyce nicht allein. Stefan Schaible, Chef der größten deutschen Strategieberatung Roland Berger, warnt: „Deutschland zeigt zu wenig Wachstum und droht ins Siechtum zu gleiten.“ Auch Andreas Rüter, Deutschlandchef der auf Transformation spezialisierten US-Beratung Alix Partners, sagt: „Viele Unternehmen sind nicht optimal aufgestellt.“ Bilanzen und Cashflows seien schwach, das Portfolio an Produkten, Projekten und Beteiligungen ebenso überdimensioniert wie die interne Organisation. Die DSW sieht mehrere deutsche Kernindustrien in Gefahr. Sie nennt mehrere Krisenfaktoren, zeigt aber auch Auswege aus der „selbstverschuldeten Krise“ auf. 1. Krisenfaktor: Teures Personal, aufgeblähte Verwaltung In der aktuellen Debatte über den Standort Deutschland werden stets die hohen Energiepreise als Krisentreiber genannt. Für Industrien wie Chemie und Stahl spielen sie eine große Rolle, in der Breite der deutschen Wirtschaft sieht das aber ganz anders aus. Im Durchschnitt geben die 100 größten, an der Börse notierten Unternehmen lediglich 3,6 Prozent des Umsatzes für Energie aus – in der Automobilbranche beispielsweise liegt diese Quote sogar bei deutlich unter einem Prozent. „Die Energiekosten in Deutschland gelten oft als großes Problem für die Wirtschaft – doch dieses Bild ist verzerrt“, heißt es in der DSW-Studie. Es seien nur eine Handvoll Branchen stark betroffen. Am stärksten würden Personalkosten und komplexe Organisationen über alle Branchen hinweg die Unternehmen belasten. Gemessen an den Lohn- und Lohnnebenkosten ist der Standort Deutschland teuer: Laut Daten des europäischen Statistikamtes Eurostat liegen die Kosten pro Arbeitsstunde in Deutschland 30 Prozent über dem EU-Durchschnitt, im verarbeitenden Gewerbe sind es sogar 44 Prozent. Problematisch sind diese Werte, weil die DSW-Studie zugleich eine leicht sinkende Produktivität in deutschen Unternehmen feststellt. Altmodische Organisationsstrukturen mit aufgeblähten Verwaltungen, vielen Stabsstellen und wenig effiziente Abteilungsprozesse – all dies würde die so genannten Strukturkosten in die Höhe treiben. In der Studie werden dazu die Verwaltungs- und Gemeinkosten der Unternehmen herangezogen, also alles, was nicht direkt zur Produktion gehört. Ergebnis: Im Durchschnitt macht dieser Kostenblock bei den 100 größten Unternehmen 16 Prozent des Umsatzes aus. Das sei ein Fünftel mehr als im europäischen Durchschnitt. Topmanager selbst aus stromintensiven Branchen bestätigen die Einschätzungen. So bezeichnet BASF-Chef Markus Kamieth die gestiegenen Personalkosten und die Minderauslastung von Anlagen als größte Probleme für den Chemiekonzern in Deutschland – und nicht zuerst die teure Energie. Die internen „Bürokratiemonster“ verursachen nicht nur direkte hohe Kosten, sondern bremsen die Firmen im internationalen Wettbewerb. Gerade US-Unternehmen würden deutlich effizienter arbeiten, heißt es in der DSW-Studie. In wirtschaftlich guten Zeiten fielen aufgeblähte Verwaltungen kaum auf. Jetzt aber stehen viele deutsche Firmen mit dem Rücken zur Wand. Nur wenige würden tief durchgreifen, bemängelt Tüngler. Bei Bayer etwa reißt Vorstandschef Bill Anderson Hierarchie- und Bürokratieebenen ein. 2. Krisenfaktor: Deutsche Innovationsschwäche Als zweites Kernproblem der deutschen Wirtschaft identifiziert die DSW-Studie die Schwäche bei innovativen neuen Produkten und Technologien. „Die Innovationskraft war über Jahrzehnte hinweg das Markenzeichen der deutschen Wirtschaft – doch von diesem Ruf ist heute kaum noch etwas übrig“, resümiert Studienautor Martin Geissler von der Beratung Adyvce. Durchschnittlich geben die untersuchten Firmen nur 4,6 Prozent ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklung aus. Bei börsennotierten Firmen aus den USA sind es zehn Prozent. Autohersteller und Pharmaunternehmen würden noch annähernd das Niveau internationaler Konkurrenten erreichen. In Sektoren wie dem Maschinenbau und der Rüstung sei dies nicht der Fall. Eine groß angelegte Studie des Bundesverbands der deutschen Industrie zur Innovationskraft stützt diese Einschätzung. Danach liegt Deutschland bei der Fähigkeit, innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, im Vergleich mit 35 Ländern nur noch auf Rang zwölf. 3. Krisenfaktor: Die Konkurrenz wird besser Die Trägheit deutscher Firmen trifft auf die Wendigkeit neuer internationaler Wettbewerber. Im Automobilbau werde mittlerweile „China Speed“ bei der Weiterentwicklung gefordert, die alte Strategie der kleinteiligen Perfektionierung von Premiumprodukten ziehe nicht mehr. Eine ähnliche Diagnose stellen die Studienautoren für den Maschinenbau. Besonders treffen werde dies diejenigen Branchen und Unternehmen, die bislang wenig Erfahrung mit intensivem Wettbewerb haben. Damit sie sich im internationalen Umfeld behaupten können, müssten sie ihre Geschäftsmodelle grundlegend auf die Probe stellen und wesentlich internationaler werden. 4. Krisenfaktor: Fachkräftemangel und Überregulierung Belastend wirkt in dieser Situation laut der DSW-Studie der Fachkräftemangel in Deutschland. Gemessen an den offenen Positionen seien vor allem IT-Unternehmen betroffen. Diese sogenannte Freistandsquote sei aber auch im Maschinen- und Anlagenbau hoch. Dazu komme die hohe Regulierungsdichte in Europa und Deutschland. Aus Sicht der Experten ist es im Kern nicht die Regulatorik an sich, die die Unternehmen so stark unter Druck setzt, sondern die Geschwindigkeit und Häufigkeit, mit der neue Vorschriften eingeführt werden. Diese hohe Veränderungsrate macht es für viele Betriebe schwierig, langfristig zu planen und Investitionen zu tätigen. Fazit der Standort-Studie: Die am meisten bedrohte Branche in Deutschland ist der Maschinen- und Anlagenbau, gefolgt von der Chemie und den Versorgern/Energieerzeugern. Die Experten haben jeweils fünf Forderungen an Politik und Unternehmen formuliert, die zu einem Ausweg aus der Krise führen könnten. Die fünf Forderungen an die Politik: Niedrigere Lohnnebenkosten: Der Staat soll die Sozialversicherungen reformieren und so wettbewerbsfähige Lohnkosten realisieren. Investitionszuschüsse statt Strafen: Statt seine Vorzeigeindustrien mit CO2-Steuern und Verboten zu bestrafen, sollte die Regierung es den USA und China gleichtun und Schlüsselindustrien durch Zuschüsse und Darlehen bei der Transformation massiv unter die Arme greifen. Gemeinsamer Wirtschaftsraum mit Frankreich: Es müsse der große, einheitliche Wirtschaftsraum hergestellt werden, der die EU einmal sein sollte. Zusammen mit Frankreich könnte Deutschland innerhalb der EU vorangehen. Energiepolitik, die heimische Ressourcen nutzt: Für eine zukunftsfähige Energieversorgung kann man nicht immer nur zu allem Nein sagen. Deutsches Fracking-Gas wäre klimafreundlicher als amerikanisches LPG und könnte eine stabile, von Trump und Putin unabhängige Basis schaffen. Stabilität und Investitionssicherheit: Es braucht ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zu Kernindustrien statt ständigen Infragestellens ihrer Zukunftsfähigkeit und massiver regulatorischer Eingriffe. Das sei zwingend für ein besseres Investitionsklima. Die fünf Forderungen an die Unternehmen: Innovationskraft führt zu Ertragskraft: In den vergangenen Jahren haben sich Unternehmen zu oft auf ihre Ertragsbringer gestützt, statt mutig auf Innovationen zu setzen. Sie müssen komplett umsteuern. Verwaltung auf das Nötige reduzieren: Der Prozess-Fetisch der Deutschen hat Verwaltung und Systeme geradezu explodieren lassen. Gut 30 Prozent der Prozesse und Abteilungen in deutschen Unternehmen sind überflüssig oder könnten digitalisiert werden. Wertschöpfung in Kernmärkte verlagern: Neue Zölle, Krisen und Kriege haben die Welt zu einem viel volatileren Ort gemacht. Das alte Globalisierungsmodell muss deshalb von einem Local-for-Local-Prinzip abgelöst werden. Kundennutzen in den Mittelpunkt stellen: Deutsche Unternehmen sind oft einkaufsgesteuert und produktzentriert. Die Unternehmen müssen akzeptieren, dass im 21. Jahrhundert ausschließlich der Kundennutzen zählt. Chancen der Diversität nutzen: Unternehmen sollten gezielt kulturelle Diversität nutzen und altersgruppenübergreifende Zusammenarbeitsmodelle einsetzen. Mehr: Agenda 2035 – Der Zukunftsplan für Deutschland von McKinsey, Boston Consulting und Roland Berger Erstpublikation: 11.02.2025, 11:15 Uhr.