Kommentar
Nach dem EZB-Entscheid – Geldpolitik wird zur Geopolitik


Christine Lagarde simuliert Normalität. Routiniert begründete die Präsidentin der Europäischen Zentralbank die neuerliche Zinssenkung – es war bereits der achte Schritt in diesem Zyklus. Unaufgeregt trägt sie das Für und Wider vor, ob nun eine Zinspause im Sommer ansteht – festlegen will sie sich nicht. Und auch sonst strahlt Lagarde eine Ruhe aus, die sich wohltuend abhebt vom Lärm aus dem politischen Raum der vergangenen Wochen und Monate.
Doch auch die demonstrative Gelassenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die EZB die Zeiten alles andere als normal sind. Denn Geldpolitik bedeutet, spätestens seit Donald Trump im Januar sein Amt als US-Präsident angetreten ist, mehr als nur eine kleinteilige und tiefe Analyse makroökonomischer Daten. Auch unter den zinspolitischen Technokraten geht es inzwischen nicht nur um die Verästelungen verschiedenster Preisindikatoren und ihr Zusammenwirken. Es geht um die große Politik oder, präziser: die Geopolitik.
Da ist der Strafzoll-Wahnsinn des Anführers der westlichen Führungsmacht, der Prognosen für die weltwirtschaftliche Entwicklung nahezu unmöglich macht. Fest steht nur, dass die kalkulierte Unberechenbarkeit des US-Präsidenten auch in Europa Unternehmen, Investoren und Verbraucher verunsichert. Niemand kann wissen, was geschieht, wenn das dreimonatige Moratorium auf die reziproken US-Strafzölle gegen den Rest der Welt ausläuft. Nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen, darf man jedenfalls als grobe Fahrlässigkeit bezeichnen.